Mag. Domnica Zamfirescu
Das Berufungsgericht in Den Haag hob am 12. November 2024 das bahnbrechende Urteil aus dem Jahr 2021 auf, das Shell zu einer drastischen Reduktion seiner CO₂-Emissionen verpflichtet hätte. Die Entscheidung unterstreicht die rechtlichen und methodischen Herausforderungen bei der Umsetzung globaler Klimaziele durch nationale Gerichte und wirft Fragen zur Rolle des Rechtsstaats auf.
Das Klimaurteil der ersten Instanz: Revolution oder juristischer Irrweg?
Im Jahr 2021 hatte das Bezirksgericht Den Haag den niederländisch-britischen Ölkonzern Shell dazu verurteilt, seinen CO₂-Ausstoß bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu reduzieren. Die Entscheidung stützte sich auf eine weite Interpretation des niederländischen Zivilrechts (Art. 6:162 nlBGB), das Schäden durch unerlaubte Handlungen regelt. Shell wurde verpflichtet, nicht nur die direkten Emissionen seiner Produktion, sondern auch die indirekten Emissionen seiner Zulieferer und Kunden zu senken.
Die Entscheidung im Berufungsverfahren
Das Berufungsgericht hob diese Verpflichtung nun auf. Die Richter erklärten zwar, Shell habe eine generelle Verantwortung zur Reduktion von Treibhausgasen beizutragen, konkrete Vorgaben wie eine Reduktion um 45 Prozent seien jedoch nicht rechtlich erzwingbar.
Das Gericht folgte in seiner Entscheidung zwei wesentlichen Argumentationslinien:
1. Keine unmittelbare Verpflichtung aus dem Pariser Klimaabkommen: Das Abkommen bindet Staaten, nicht Unternehmen. Gerichte können Unternehmen keine eigenständigen Verpflichtungen auferlegen, wenn keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen existieren.
2. Indirekte Emissionen: Das Berufungsgericht befand, dass Shell nicht für die CO₂-Emissionen seiner Kunden und Zulieferer verantwortlich gemacht werden könne. Die Verantwortung für diese Emissionen liege außerhalb der Kontrolle des Unternehmens.
Es bleibt offen, wie die Höchstgerichte in den Niederlanden die Rechtsfragen lösen werden. Die Entscheidung verdeutlicht die Notwendigkeit, Klimaziele klar und verbindlich gesetzlich festzulegen, anstatt diese Verantwortung an Gerichte zu delegieren. Gerichte dürfen keine Ersatzgesetzgeber sein. Ihre Aufgabe ist es, geltendes Recht anzuwenden, nicht, gesellschaftspolitische Entscheidungen zu treffen oder neue Verpflichtungen für private Akteure zu schaffen, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat.
Die juristische Auseinandersetzung zeigt, dass ambitionierte Klimaziele und rechtliche Umsetzbarkeit nicht immer im Einklang stehen. Sie wirft eine zentrale Frage auf: Wie kann die Klimaverantwortung multinationaler Konzerne effektiv geregelt werden, ohne die Prinzipien des Rechtsstaats zu gefährden?