Das Erkenntnis des BVwG vom 9.4.2019, W104 2211511-1/53E, ist ein rechtlicher Sprengkörper, dessen Explosion weit über Städtebauprojekte nach dem UVP-G hinaus schallen wird – sollte es vom VwGH bestätigt werden. Das Judikat erschüttert die Grundfesten des UVP-G-Rechtsanwenders gleich in sowohl materiell-rechtlicher als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht.
Materiell-rechtliche Aspekte des Erkenntnisses:
Das BVwG hat – entgegen der Rechtsansicht der Wiener Landesregierung – ausgesprochen, dass für das Bauvorhaben „Hotel InterContinental“, „WEV“ und „Heumarktgebäude“ eine UVP im vereinfachten Verfahren durchzuführen ist. Die Argumentation des BVwG knüpft an zwei Kernaussagen, welche im Folgenden wiedergegeben bzw beleuchtet werden.
Erste Aussage: Europarechtliche Vorgaben der UVP-Richtlinie unrichtig umgesetzt
ME kann der Aussage des BVwG, der Gesetzgeber habe die Vorgaben des UVP-G im Bezug auf Städtebauvorhaben unrichtig umgesetzt und sei die UVP-RL somit unmittelbar anwendbar, vollinhaltlich zugestimmt werden. Die wesentlichen Aussagen des BVwG dazu, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die einschlägigen Bestimmungen der UVP-Richtlinie 2011/92/EU i.d.F. der Richtlinie 2014/52/EU, sind insb Art 2 Abs 1, Art 4 Abs 2 sowie Anhang II und Anhang III. Diese europarechtlichen Vorgaben wurden durch den Gesetzgeber in Anhang 1 sowie Anhang 2 des UVP-G umgesetzt. Diese Umsetzung erfolgte hinsichtlich „Städtebauvorhaben“ (Spalte 2 des Anhanges 1 des UVP-G) jedoch unzureichend. Gem Art 2 Abs 1 und Art 4 Abs 2 UVP-RL ist hinsichtlich von Projekten des Anhanges II zwingend entweder eine Einzelfallprüfung vorzunehmen oder Schwellenwerte bzw. Kriterien festzulegen, anhand der eine UVP durchzuführen ist. Den Mitgliedstaaten kommt dabei ein Entscheidungsspielraum zu. Städtebauprojekte fallen unter diese Umsetzungsbestimmung, da sie in Anhang II Z 10 lit b der UVP-RL angeführt sind. Bei der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien sind außerdem die relevanten Auswahlkriterien des Anhanges III der UVP-RL zu berücksichtigen. Anhang III enthält verschiedene Auswahlkriterien, anhand welcher die ökologische Empfindlichkeit der geografischen Räume, die durch die Projekte möglicherweise beeinträchtigt werden, beurteilt werden müssen. Eines dieser Auswahlkriterien sind ua „historisch, kulturell oder archäologisch bedeutende Landschaften und Stätten“. Anhang III der UVP-RL wurde im Anhang 2 des UVP-G umgesetzt; die erwähnten historisch, kulturell oder archäologisch bedeutende Landschaften und Stätten befinden sich unter Kategorie A des UVP-G („UNESCO Weltkulturerbe“). Weiters werden nach Art 2 Abs 1 der UVP-RL die Kriterien der Art, der Größe oder des Standortes normiert, die nicht isoliert voneinander zu berücksichtigen sind. Diesen Anforderungen entspricht der Tatbestand des Städtebauvorhabens gem Anhang 1 Z 18 lit b UVP-G laut Ansicht des BVwG nicht. Demnach wird im UVP-G lediglich auf einen Schwellenwert iSe Größenkriteriums abgestellt und darauf, dass es sich um ein Erschließungsvorhaben handelt. Zudem findet sich der Tatbestand in Spalte 2 des Anhanges 1; Anhang 2, welcher sich auf die Einteilung der schutzwürdigen Gebiete (und somit die Lage) bezieht, findet jedoch nur auf Spalte 3 Anwendung. Insofern wird die Lage eines Städtebauvorhabens nur ausnahmsweise dann berücksichtigt, wenn es iVm einem Projekt der Spalte 3 eingereicht wird. Dies widerspricht jedoch den dargestellten Vorgaben der UVP-RL, wonach die Kriterien des Anhangs III zu berücksichtigen sind. Zudem sind – entgegen den Vorgaben des Gesetzgebers – im Lichte des Leitfadens der Europäischen Kommission zur Auslegung der UVP-RL Städtebauvorhaben weit zu verstehen und ist nicht nur auf das Kriterium des Erschließungsvorhabens abzustellen. Nach den europarechtlichen Vorgaben könnte demnach – entgegen den Gesetzesmaterialien (vgl RV 648 BlgNR 22. GP zu Z 72 und RV 1809 BlgNR 24. GP zu Z 27) – auch ein einzelnes Hochhaus ein Städtebauvorhaben sein. Nach Ansicht des BVwG führe die fehlende Berücksichtigung schutzwürdiger Gebiete dazu, dass bestimmte Klassen der in Anhang II der UVP-RL angeführten Projekte von vornherein insgesamt von der Pflicht ausgenommen werden. Es sei nicht auf Grund einer pauschalen Beurteilung aller städtischen Bauprojekte kleiner als 15 ha oder 150.000m2 BGF davon auszugehen, dass bei ihnen nicht mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist.
Bestätigt der VwGH das Erkenntnis des BVwG hinsichtlich dieser Aussage, so hat dies zur Konsequenz, dass der Gesetzestext des UVP-G stets unter Berücksichtigung der UVP-RL gelesen und angewendet werden muss. Dies insbesondere dann, wenn der einschlägige Tatbestand schutzwürdige Gebiete iSd Anhang 2 außer Acht lässt (so auch Ennöckl, BVwG Heumarkt – UVP neu denken?).
Zweite Aussage: Der Tatbestand des „Städtebauvorhabens“ gem UVP-G ist erfüllt
Andererseits postuliert das BVwG, dass – selbst wenn die europarechtlichen Vorgaben richtig umgesetzt worden wären – die Kriterien der geltenden Bestimmung des UVP-G zu Städtebauvorhaben durch das Heumarktprojekt weitgehend erfüllt seien. Dies trifft mE nicht zu. So verlangt der Tatbestand „Städtebauvorhaben“ nach Anhang 1 Z 18 lit b UVP-G 2000, dass die Tatbestandselemente „Flächeninanspruchnahme“, „Bruttogeschoßfläche“, „gesamthafter, auf die Ausführung des Vorhabens gerichteter Wille“, „Multifunktionalität“, „Erschließungsstraße“ sowie „Versorgungseinrichtung mit Magnetwirkung“ kumulativ erfüllt sein müssen. ME fehlen im Erkenntnis des BVwG die notwendigen Feststellungen betreffend des Vorliegens der „Versorgungseinrichtung mit Magnetwirkung“. Dies hätte mE sachverständig – unter Heranziehung der relevanten Faktoren (etwa Struktur der Geschäftslokale, Gesamtverkaufsfläche, Anzahl der öffentlich zugänglichen Stellplätze für Nahversorger, Kaufkraftpotential) – untersucht werden müssen. Dies ist jedoch nicht erfolgt.
Verfahrensrechtlicher Aspekt des Erkenntnisses:
Im Zuge des laufenden Beschwerdeverfahrens zog der Projektwerber seinen UVP-Feststellungsantrag zurück und beantragte die Einstellung des Beschwerdeverfahrens sowie die ersatzlose Behebung des von der Wiener Landesregierung erlassenen negativen Feststellungsbescheides. Das BVwG schränkte jedoch genau diese Dispositionsfähigkeit des Projektwerbers ein. Um eine erfolgreiche Zurückziehung des Feststellungsantrags zu bewirken, müsse der Projektwerber nämlich nachweisen, dass er seinen Verwirklichungswillen bezüglich des Projekts aufgegeben hat und hätte dies durch entsprechende Belege (Zurückziehung der materienrechtlichen Genehmigungsanträge und entsprechende eidesstaatliche Erklärung) zu bescheinigen. Dieser Aufforderung kam der Projektwerber jedoch nicht nach, woraufhin das BVwG die Anträge des Projektwerbers abwies. Das BVwG stützte sich dabei auf die jüngste Judikatur des VwGH (VwGH 29.11.2018, Ra 2016/06/0034), wonach keine Rechtsverletzung vorliege, wenn eine Behörde einen Feststellungsbescheid aufgrund einer zu Unrecht angenommenen Antragstellung erlassen hat, wenn die Feststellung – wie nach § 3 Abs 7 UVP-G – auch von Amts wegen getroffen werden kann. Dies müsse laut Ansicht des BVwG auch im vorliegenden Fall gelten, als eine antragsberechtigte Partei den Feststellungsantrag gestellt hat und diesen im Beschwerdeverfahren zurückzieht. Auch in diesem Fall hätte die Behörde den Bescheid von Amts wegen erlassen können und liegt die Feststellung ebenfalls im öffentlichen Interesse. Gegen diesen amtswegigen Bescheid hätten die beschwerdeberechtigten Personen nochmals Beschwerde erheben müssen. Diese Auslegung widerspräche dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis sowie dem Anspruch jener Beschwerdeführer, die im behördlichen Verfahren weder Antragsberechtigung noch Parteistellung hatten, auf ein faires, gerechtes, zügiges und nicht übermäßig teures Überprüfungsverfahren (Art 11 Abs 4 UVP-RL). Anders wäre zu entscheiden gewesen, wenn die Projektwerberin nachvollziehbar dargelegt hätte, dass sie nicht mehr die Absicht hat, das Vorhaben zu verwirklichen.
ME ist dieser Rechtsansicht des BVwG zuzustimmen. Grundsätzlich ist nach dem AVG die Zurückziehung eines Antrages so lange zulässig, als dieser noch unerledigt ist und daher noch zurückgezogen werden kann. Dies bedeutet für jene Fälle, in denen der verfahrenseinleitende Antrag auf die Einleitung eines mit Bescheid abzuschließenden Verfahrens gerichtet ist, dass eine Antragszurückziehung bis zur Bescheiderlassung, im Fall einer Beschwerde auch bis zur Erlassung des Erkenntnisses, möglich ist (VwGH 16.08.2017, Ro 2017/22/0005). Insofern hat ein Projektwerber als „Herr des Verfahrens“ auch noch dann die Verfügungsbefugnis über das Verfahren, wenn er selbst Beschwerde erhebt. Dies erfährt mE aber dort eine Einschränkung, wo nicht der Projektwerber allein, sondern auch noch andere Parteien – wie insb im UVP-G etwa gem § 3 Abs 9 – beschwerdelegitimiert sind und auch tatsächlich Beschwerde erheben. Wird demnach eine zulässige und fristgerechte Beschwerde von einer vom Projektwerber verschiedenen Person eingebracht, kann sich der Projektwerber diesem Verfahren mE nicht mehr durch Zurückziehung des verfahrenseinleitenden Antrags entziehen. Dieses Ass im Ärmel wäre somit verspielt. Insofern ist es – unter Anwendung des Art 11 Abs 4 UVP-RL – zutreffend, dass der Anspruch jener Beschwerdeführer, die im behördlichen Verfahren weder Antragsberechtigung noch Parteistellung hatten, auf ein faires, gerechtes, zügiges und nicht übermäßig teures Überprüfungsverfahren, dem Zurückziehen des Antrags durch den Projektwerber entgegensteht. Einer rein juristisch-formalistischen Betrachtung steht mE das vom BVwG herangezogene rezente Judikat des VwGH vom 29.11.2018 zu Ra 2016/06/0034 entgegen: Ob die UVP-Behörde nach dem Wortlaut des Anhang 1 Z 18 lit b vAw aufgenommen hätte oder nicht ist nicht von Belang, da alleine die abstrakte Möglichkeit dazu reicht (arg Rn 39: „wenn die Feststellung […] auch von Amts wegen getroffen werden ‚kann‘“).
Mag. Azra Dizadrevic, 12.06.2019