Anwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung bei einer aus Teilflügen bestehenden Flugreise und Haftung für rechtzeitige Alternativbeförderung

Aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des Landesgerichts Korneuburg hat sich der Europäische Gerichtshof mit zwei brisanten Auslegungsfragen auseinanderzusetzen. Bereits die am 6. Oktober veröffentlichten Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe bieten reichlich Zündstoff und werden von Experten im Bereich des Fluggastrechts kontroversiell diskutiert.

 

Dem Verfahren liegt eine einheitlich gebuchte Flugreise von Chișinău (Moldawien) über Wien nach Bangkok (Thailand) zugrunde. Nach der Annullierung des Flugsegments von Chișinău nach Wien wurde der Fluggast auf einen Alternativflug über Istanbul nach Bangkok umgebucht. Die ursprünglich gebuchten Teilflüge sollten von Austrian Airlines durchgeführt werden und unterlägen bei separater Beurteilung dem Anwendungsbereich der VO (EG) 261/2004, da beim ersten Teilflug der Zielort und beim zweiten Segment der Abflugort in der Europäischen Union gelegen wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH definiert sich der Begriff der Flugreise – sofern eine einheitliche Buchung vorliegt – über den Abflugort des ersten und den Zielort des letzten Flugsegments. In Bezug auf die Entfernungsberechnung (C-559/16), aber auch hinsichtlich des Schutzbereichs der Verordnung (C-537/17) kommt einem Zwischenstopp keine Bedeutung zu. In der letztgenannten Entscheidung hat der Gerichtshof ausgesprochen, dass selbst dann ein Ausgleichsanspruch besteht, wenn die Verspätungsursache auf dem zweiten Teilflug einer einheitlich gebuchten Flugreise auftritt und dieser Teilflug für sich nicht dem Anwendungsbereich der Verordnung unterliegen würde. Durch das Abstellen auf die Gesamtheit eines Beförderungsvorgangs wurde nicht nur den tatsächlichen Gegebenheiten im Luftverkehr, sondern auch dem Interesse an einem hohen Schutzniveau für Fluggäste Rechnung getragen. Die Zielsetzung ein hohes Schutzniveau für Passagiere zu gewährleisten kann jedoch nicht so weit reichen, dass der in der Judikatur entwickelte Grundsatz der einheitlichen Flugreise dann nicht zur Anwendung gelangt, wenn dies für den konkret betroffenen Fluggast ausnahmsweise mit negativen Konsequenzen – nämlich der Nichtanwendbarkeit der Fluggastrechteverordnung – verbunden wäre. Im Ergebnis ist daher nur die Auslegung zulässig, dass eine Flugreise, bei der sowohl Ausgangspunkt (Chișinău) als auch Endziel (Bangkok) in einem Drittstaat gelegen sind, selbst dann nicht dem Anwendungsbereich der VO (EG) 261/2004 unterliegt, wenn ein Stopover auf einem Flughafen in der Europäischen Union vorgesehen ist.

Dementgegen vertritt der Generalanwalt die Ansicht, dass die Zwischenlandung auf dem Flughafen eines Mitgliedstaates ausreichend ist, um den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung zu eröffnen. Argumentativ wird in der Schlussstellungnahme ausgeführt, dass die Gleichbehandlung von Passagieren, die über eine einheitliche Buchung verfügen sowie jenen die zwei separate Buchungen vorgenommen haben, geboten sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Verordnungswortlaut als Endziel explizit den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Fluges definiert und durch die bisherige Rechtsprechungspraxis des EuGH keinerlei Anhaltspunkte für eine Gleichheitswidrigkeit des Kriteriums der einheitlichen Buchung aufgezeigt wurden. Auch der Verweis auf die Herstellung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste vermag wie bereits erörtert nicht zu überzeugen und kann nicht zur Folge haben, dass idente Sachverhalte in rechtlicher Hinsicht unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem welche Auslegung im konkreten Fall dem Interesse des betroffenen Passagiers gerecht wird.

Im Rahmen der zweiten Auslegungsfrage hat sich der Gerichtshof damit zu befassen, ob ein Luftfahrtunternehmen, das sich durch die Umbuchung der Passagiere auf einen Alternativflug einer anderen Airline von der Verpflichtung zur Ausgleichsleistung befreien möchte, für die rechtzeitige Beförderung durch diese Fluglinie einzustehen hat. Auch wenn die Fluggastrechteverordnung diesbezüglich keine Anhaltspunkte bietet und dem Luftfahrtunternehmen eine faktische Einflussmöglichkeit auf die rechtzeitige Flugdurchführung eines Drittunternehmens nicht zukommt, kann der Ansicht des Generalanwalts gefolgt werden, wonach nur bei einer rechtzeitigen Ankunft des Alternativfluges eine Haftungsbefreiung für das ursprüngliche Luftfahrtunternehmen eintritt. Dies lässt sich zum einen mit dem bereits viel strapazierten Grundsatz der Gewährung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste als auch der Ursache der Umbuchung in der Sphäre des Luftfahrtunternehmens begründen.

(Schlussanträge des Generalanwalts vom 6.10.2021, C-451/20

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