Der Treppensturz beim Ausstieg aus einem Luftfahrzeug aus unbestimmtem Grunde ist als „Unfall“ zu qualifizieren, für welchen das Luftfahrtunternehmen verschuldensunabhängig haftet

Im Wege der Vorabentscheidung wurde der EuGH zur Auslegung von Art 17 Abs 1 und Art 20 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr („Übereinkommen von Montreal“) vom Landesgericht Korneuburg angerufen. Das Übereinkommen ist seit dem 28. Juni 2004 ein integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung, der EuGH ist für die Auslegung zuständig (C-258/16).

 

Der EuGH stellte am 02.06.2022 fest, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grunde auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürze und sich dabei verletze, unter den Begriff des „Unfalls“ gem Art 17 Abs 1 des Übereinkommens von Montreal zu subsumieren sei.  Der Umstand, dass das betreffende Luftfahrtunternehmen nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hatte, vermochte die Subsumtion nicht in Frage zu stellen.

Bereits im vorhergehenden Urteil hatte der EuGH klargestellt, dass der Begriff des „Unfalls“ iS des Übereinkommens nicht ein luftfahrtspezifisches Risiko verlange (C-532/18). Nun stellte er auch fest, dass auch der Treppensturz beim Aussteigen aus dem Luftfahrzeug aus unbestimmtem Grunde darunter zu subsumieren sei.

In seinem Schlussantrag legte der Generalanwalt die erste Frage restriktiv aus, verneinte diese im Endeffekt und differenzierte, der Sturz müsse durch einen unerwarteten oder ungewöhnlichen Faktor außerhalb der Sphäre des Fluggastes ausgelöst worden sein um einen Unfall darzustellen. Er wies darauf hin, dass der Anwendungsbereich des Art 17 Abs 1 des Übereinkommens von Montreal sonst unverhältnismäßig ausgeweitet werden würde. Die Luftfahrtunternehmen würden für Zwischenfälle haftbar gemacht, die von bereits bestehenden Gesundheitsproblemen bis hin zu reiner Ungeschicklichkeit der Fluggäste reichen könnten. Der Generalanwalt kam zum Ergebnis, der Fluggast müsse dartun, dass ein außerhalb seiner Sphäre liegender unerwarteter oder ungewöhnlicher Faktor den Sturz verursachte, wie etwa, dass Öl, Schnee oder Wasser auf den Stufen lag. Da die Treppe im vorliegenden Fall weder mangelhaft, noch rutschig, noch ölig war, verneinte er im gegenständlichen Fall das Vorliegen eines Unfalles iSd Montrealer Übereinkommens. Der EuGH übernahm diese Differenzierung nicht und sprach aus, dass ein Sturz aus „unbestimmtem Grunde“ ein Unfall und somit haftungsbegründend sei.

Die zweite Frage betraf die Auslegung des Art 20 des Übereinkommens von Montreal. Das Luftfahrtunternehmen ist nur insoweit von seiner Haftung gegenüber dem Fluggast befreit, wenn es nachweist, dass eine wenn auch nur fahrlässige unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung des Fluggastes den Schaden verursacht oder zumindest dazu beigetragen hat. Das Gericht hat das Vorliegen eines Haftungsausschlusses anhand der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu prüfen.

Der EuGH präzisierte, dass sämtliche Umstände, unter denen der Schaden eingetreten ist, für die Beurteilung der Fahrlässigkeit in Betracht zu ziehen sind. Im gegenständlichen Fall müsste das Gericht sowohl in Betracht ziehen, dass sich der Fluggast beim Aussteigen nicht an den Handläufen festgehalten hatte, als auch, dass er mit einem minderjährigen Kind auf dem Arm gereist war, für dessen Sicherheit er sorgen musste. Zwar hatte der Fluggast verzichtet, sich unmittelbar nach dem Sturz einer Behandlung zu unterziehen, allerdings wäre dabei auch zu berücksichtigen, welchen Schweregrad die Verletzung unmittelbar nach dem Unfall zu haben schien. Laut EuGH wird also auf dieser Ebene zu berücksichtigen sein, aus welchem Grunde es zu einem Unfall gekommen ist. Die finale Beurteilung des Falles obliegt dem Landesgericht Korneuburg.

(EuGH 02.06.2022, Rs C-589/20, Austrian Airlines)

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