Der Dieselgate-Skandal ist um ein Kapitel reicher. Der EuGH stärkt mit seiner weitreichenden Grundsatzentscheidung die Klagslegitimation von Umweltverbänden und verschärft die Kriterien für die Zulässigkeit von Thermofenstern.
Der jüngsten Gerichtsentscheidung zum Ende 2015 publik gewordenen Dieselskandal liegt das Vorabentscheidungsersuchen eines deutschen Gerichtes zu Grunde. Im Ausgangsverfahren hat die Deutsche Umwelthilfe die Entscheidung des Kraftfahrt-Bundesamtes (kurz KFBA), mit der die Zulässigkeit sogenannter Thermofenster – nämlich temperaturgesteuerter Abschalteinrichtungen bei der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen – bestätigt wurde, angefochten. Das vorlegende Gericht bezweifelte jedoch einerseits die Klagslegitimation der Deutschen Umwelthilfe – insbesondere, ob die Aarhus Konvention eine Anfechtungsmöglichkeit bietet – andererseits hinterfragte es, nach welchen Maßstäben festzustellen sei, ob eine Abschalteinrichtung tatsächlich notwendig ist. Zu beiden Fragen rief das Gericht den EuGH an.
Hinsichtlich der ersten Frage stellt der Gerichtshof zunächst klar, dass die im Ausgangsverfahren angefochtene Entscheidung dem sachlichen Anwendungsbereich der Aarhus Konvention unterliegt, da sie eine Handlung einer Behörde darstellt, die angeblich gegen umweltbezogene Bestimmungen, nämlich in concreto die VO Nr 715/2007, verstößt. Der EuGH argumentiert damit, dass sich sowohl aus seiner Rechtsprechung als auch aus den Erwägungsgründen ergebe, dass die VO Nr 715/2007 das Ziel verfolgt, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen. Entgegen der Ansicht des vorlegenden Gerichts schließe der Umstand, dass die gegenständliche Verordnung nicht auf einer spezifischen Rechtsgrundlage für die Umwelt beruht, ihre Identität als umweltbezogene Bestimmung nicht aus. Untermauernd verweist der Gerichtshof auf die Definition des Begriffs Umweltrecht in der VO Nr 1367/2006 als Rechtsvorschriften, die unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage zur Verfolgung der Ziele der Umweltpolitik der Union beitragen. Zuletzt wird noch auf den Leitfaden zur Durchführung der Aarhus Konvention Bezug genommen, nach dem die Wendung umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine weite Bedeutung erfährt und es schon ausreicht, wenn die fragliche Bestimmung in irgendeiner Weise einen Umweltbezug hat.
Betreffend den persönlichen Anwendungsbereich der Aarhus Konvention konstatiert der EuGH sodann, dass ein Kläger, damit er Klagslegitimation aus Art 9 Abs 3 leg cit ableiten kann, insbesondere Mitglied der Öffentlichkeit sein und etwaige innerstaatliche Kriterien erfüllen müsse. In weiterer Folge behandelt der Gerichtshof die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage, ob die Vertragsparteien Kriterien nicht nur in Bezug auf den Keis der Anfechtungsberechtigten, sondern auch in Bezug auf den Gegenstand der Klage festlegen können. Grundsätzlich sei den Mitgliedsstaaten ein gewisser Gestaltungsspielraum überlassen, so der EuGH, der es grundsätzlich erlaubt, verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen zur Einlegung solcher Rechtsbehelfe zu erlassen (EuGH 20.12.2017, C-664/15; 14.01.2021, C-826/18). Bereits nach dem Wortlaut von Art 9 Abs 3 leg cit ergebe sich jedoch, dass sich diese Kriterien auf die Bestimmung des Kreises der Anfechtungsberechtigten beziehen und nicht auf den Gegenstand der Klage, vorausgesetzt, dass sie sich auf einen Verstoß gegen umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts bezieht. Daraus folge, dass die Mitgliedstaaten den sachlichen Anwendungsbereich von Art 9 Abs 3 leg cit nicht dadurch einschränken dürfen, dass sie bestimmte Kategorien von Bestimmungen des nationalen Umweltrechts vom Gegenstand der Klage ausnehmen. Andernfalls hätte das durch Art 47 GRC geschützte Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen, keine praktische Wirkung und würde ausgehöhlt werden, so der EuGH. Weiters gehe aus der Konvention – entgegen der Vermutung des vorlegenden Gerichts – nicht hervor, dass das Anfechtungsrecht allein auf Entscheidungen mit Umweltauswirkungen von großer Bedeutung beschränkt wäre. Im Ergebnis konstatiert der EuGH daher, dass innerstaatliche Kriterien iSd Art 9 Abs 3 Aarhus Konvention ungeachtet des bestehenden Gestaltungsspielraums nicht derart streng sein dürfen, dass es für Umweltvereinigungen praktisch unmöglich ist, einen Rechtsbehelf zu erheben.
Betreffend die zweite Frage stellt der EuGH fest, dass eine Abschalteinrichtung nur dann zulässig sein könne, wenn diese ausschließlich notwendig ist, um die unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden. Die Risiken müssen so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des Fahrzeugs darstellen. Außerdem sei eine Abschalteinrichtung nur dann notwendig, wenn zum Zeitpunkt der Typgenehmigung keine andere technische Lösung zur Abwendung der Risiken und Gefahren besteht. Eine Abschalteinrichtung wäre aber selbst dann unzulässig – so der EuGH weiter –, wenn diese unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor den genannten Risiken und Gefahren geschützt wäre. Folglich konstatiert der Gerichtshof, dass die im gegenständlichen Fall interessierende Abschalteinrichtung nicht zulässig sein könne, da diese selbst bei in Deutschland vorherrschenden Durchschnittstemperaturen aktiviert sein muss.
Ausgehend davon wird das vorlegende Gericht nun das Ausgangsverfahren weiterzuführen und zu entscheiden haben, ob das KFB die Abschalteinrichtung genehmigen hätte dürfen. Abgesehen von der Bedeutung für das Ausgangsverfahren ist insbesondere die weit über den Einzelfall hinausstrahlende Relevanz des gegenständlichen EuGH Urteils hervorzuheben. Der Gerichtshof stärkt die Klagebefugnis von Umweltverbänden deutlich. Nicht nur im Kontext des Dieselgate, vielmehr auch für alle zukünftigen Fälle, in denen es um die Einhaltung von unionsrechtlichen Umweltschutzvorschriften in Genehmigungsverfahren geht. Abgesehen davon bestätigt der EuGH die Unzulässigkeit von Theromfenstern und gibt damit die weitere Richtung für die gerichtliche Aufarbeitung des Abgasskandals vor. Abschließend kann somit konstatiert werden, dass nicht nur die Aufarbeitung des Dieselgates um ein Kapitel reicher ist, sondern auch die Rechtsprechung zur Aarhus Konvention und der Klagslegitimation von Umweltverbänden eine bedeutende Weiterentwicklung erfahren hat.